„Auf Gott hoffen, der (unter jenen Umständen) keine Rettung brachte?

Dieser Bruch kann nicht schlichtweg behoben werden.

Denn das Geschehene hat unsere Ideen von einem gerechten und gnädigen Gott grundsätzlich erschüttert.“

Hans-Eckehard Bahr

Nachsatz: ich habe den Bücherschrank einer alten Frau geerbt. Womit ich nicht rechnete: dass Bücher, bei denen ich zuerst überlegte sie in Büchertauschschränke zu bringen, mir jetzt (unter diesen Umständen) sehr viel zu geben begannen. Es sind Bücher wie jenes von Hans Eckehard Bahr.

Was ist der Mensch?

Sonntag mit: In Momenten von Aufregung oder Stress lesen wir nicht

„Unter allen Gattungen von Lebewesen ist nur dem Menschen die Fähigkeit des Lesens gegeben-und damit die Möglichkeit, die vorgefundene Realität, jedenfalls im Geiste und für eine gewisse Zeit zu verlassen. Jedes Mal, wenn wir ein Buch aufschlagen, vollzieht sich zwischen Auge und Papier etwas Außerordentliches, eine Art Wunder. Wir sehen Reihen von Buchstaben, und wenn wir unseren Blick darübergleiten lassen, verwandelt unser Gehirn sie in Bilder, Gedanken, Gerüche, Stimmen. Es geht mir nicht nur darum, dass wir fähig sind aus einfachen Zeichen konkrete Informationen herauszulesen, das könnte auch ein Computer.

Ich meine eher die Bilder, die Gerüche, die Töne, die diesen Zeichen entspringen.

Keinem Psychologen ist es wohl jemals gelungen, dieses Wunder des Lesens gänzlich zu erklären. Ein allgemein verbreitetes Wunder, denn schliesslich geschieht es jede Sekunde an verschiedenen Orten auf dem ganzen Erdball.

Bis jetzt haben die Psychologinnen und Psychologen jedenfalls festgestellt, dass die Fähigkeit zu ergiebigen Lesen eines der Merkmale für psychisches Gleichgewicht ist.

In Momenten von Aufregung und Stress lesen wir nicht.“

Olga Tokarczuk “ Übungen im Fremdsein“

Donnerstag mit:Ragnar Helgi Ólafsson:

Inspiriert vom morgendlichen Fund bei Leseschatz

https://leseschatz.com/

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Es wird erzählt

dass Gott, bevor er auf die Idee kam,

die Welt zu erschaffen

in den Spiegel geschaut habe.

Das Spiegelbild

ist zunächst

ein genaues Ebenbild dessen, was

gespiegelt wird,

doch

dann bekommt es ein Eigenleben.

So hat ein Gedanke über einen Gedanken

die Welt

erschaffen.

In Böhmen wirst du im Schlafzimmer

keinen Spiegel finden.

Dort wird es als sehr gefährlich angesehen,

wenn ein schlafender Mensch sein Spiegelbild sieht.

In Böhmen wissen die Menschen,

dass ihre Selbstbildnisse zerbrechlich sind.

Eins gibt es, worüber ich immer nachdenken muss.

Was passiert

wenn ein Chamelion

in den Spiegel schaut.

Sechstausend Kilometer entfernt von Moskau existiert eines der letzten Naturparadiese am Ochotskischen Meer, eines der unwirtlichsten Orte, gelegen zwischen Sibirien und Kamschatka. Im Winter ist der Ozean von Eis bedeckt, im Sommer peitschen Taifune über das Wasser. Hier leben Robben, Riesenbären, Wale und im Roman „Der Junge und das Meer“ von Tschingis Aitmatow- das Volk der Niwchen. welches vom Fischfang und Robbenfang lebt.

Seit Ewigkeiten fordert die Tradition, dass Söhne, sobald sie halbwüchsig sind, ihre Weihe auf dem Meer erhalten, um das Handwerk zu erlernen, welches der Sippe das Überleben sichert.

Kirisk bricht zu seiner ersten Robbenjagd auf, zusammen mit dem alten, weisen Organ, dem Vater und einem Onkel.

Es wird, als ein Unwetter über das Meer fegt, zur tödlichen Herausforderung.

„Jeder Kreatur bleibt das eigene Schicksal verschlossen. Niemand weiß, was ihm bevorsteht.“

„Dennoch lebt in uns die Sehnsucht, die Rätsel zu entschlüsseln, die uns umhüllen „

„Auch dieses Mal vollzog sich sich das Unausweichliche jenseits menschlicher Vorstellungskraft und, einmal vollzogen, vielleicht auch jenseits göttlicher Absichten.

Wer es dennoch begreifen wollte, hätte versuchen können, ein Horoskop der betroffenen Wesen zu erstellen, vielleicht waren sie ja kosmische Verwandte, die unter einem verbindenden Sternzeichen das Licht der Welt erblickt hatten. Vielleicht gingen sie darum diesen Schicksalsweg, so und nicht anders, aber wer weiß das schon…“

Tschingis Aitmatow “ Der Schneeleopard“

Das macht uns zu Menschen

„Die Erkenntnis der Lage, in der wir uns alle befinden, treibt uns in die Enge, denn es gibt keine Hoffnung, und es sieht so aus, als wäre die Welt nicht als gut geschaffen worden, als gründete sie auf Leiden, das sich nicht vermeiden lässt. Und obwohl wir nicht wissen, warum dem so ist, müssen wir uns in diesem Ozean der Hoffnungslosigkeit anständig verhalten- das macht uns zu Menschen, nicht unsere DNA.“

Olga Tokarczuk “ Übungen im Fremdsein“

Und sonst?: Andersen Nexö beendet. Die morgendlichen Märchen werden mir fehlen

Im Tauschregal Jack London, Leo Tolstoi “ Auferstehung“, Alexandre Dumas gefunden.

Sonntag mit Literatur für neue Zeiten und der letzten lesenden Generation

Es wäre schwierig, eine Vision der Literatur für neue Zeiten zu kreieren, insbesondere, weil gut informierte Quellen zu wissen meinen, dass eben derzeit die letzte lesende Generation heranwächst.

Trotzdem möchte ich, dass wir uns weiterhin zugestehen, neue Geschichten zu ersinnen, neue Begriffe und neue Wörter.“

Lasst uns eine Bibliothek der neuen Begriffe schaffen und sie mit ex-zentrischen Inhalten füllen-Inhalten, von denen das Zentrum noch nie gehört hat. Denn schließlich wird es uns an Wörtern, Termini, Wendungen, Phrasen fehlen, und wer weiß, vielleicht an ganzen Stilen und Gattungen zur Beschreibung dessen was da kommt. Neue Landkarten werden wir brauchen und den Mut, den Humor von Wanderern, die sich nicht scheuen, den Kopf aus der Sphäre der bisherigen Welt hinauszustrecken, über den Horizont der bisherigen Wörterbücher und Enzyklopädien.“

Olga Tokarczuk: “ Übungen im Fremdsein“

Samstag mit: und nun taucht eine Generation an unserer Seite auf, die begreift- Übungen im Fremdsein- Olga Tokarczuk

“ Unsere und die vorangehenden Generationen sind darauf gepolt, Ja, Ja, Ja zur Welt zu sagen. Wir dachten uns: Ich probiere dies und das, fahre hierhin und dann dorthin, erlebe dies und jenes. Ich nehme dieses hier, und -kann ja nicht schaden-das da nehme ich auch noch.

Und nun taucht eine Generation an unserer Seite auf, die begreift, dass es in der neuen Situation die menschlich und ethisch wertvollste Entscheidung ist, sich im Nein, Nein, Nein zu üben. Ich gebe dies und jenes auf. Beschränke das hier und das. Dies hier brauche ich nicht. Will ich nicht. Lasse ich lieber….“Übungen im Fremdsein) Olga Tokarczuk

Und sonst: Das Ergebnis des einwöchigen Leseurlaubs:

Ausgelesen: Überwintern von Katherine May

Noch lesend: Märchen von Andersen Nexö

Angelesen: Was dir bleibt : Jocelyne Saucier

Systemsturz von Kohai Saito

Übungen im Fremdsein: Olga Tukarczuk

Morgen und Abend: Jon Fosse

Der Junge und das Meer: Aitmatow

Gefehlt haben mir die Lesepausen: mit Hund unterwegs. Allein spazieren zu gehen macht mir wenig Freude.

Freitag mit The real life guys- Tod, Hoffnung und der Frage nach Gott

https://www.ardmediathek.de/video/doku-und-reportage/real-life-guy-der-youtuber-der-tod-und-die-hoffnung/ndr/Y3JpZDovL25kci5kZS8xNDkzXzIwMjEtMDYtMTktMDAtNDU

Den Morgen mit Andersen Nexös Märchen : „Die Mutter“ begonnen.

Später:

Zufällig auf diese, mich zutiefst berührende Dokumentation gestossen.

Erinnere mich, dass Julius mir davon erzählte. In dem Moment war ich nicht präsent gewesen. Gartenarbeit. Er ist gestorben, sagte er. Und dann etwas von fliegenden Badewannen erzählt, als ich nachfragte. Zwei Jahre ist das her.

Der Sohn und ich haben besonders im letzten Jahr oft über die Fragen von Glauben und Nichtglauben gesprochen.

Wenn es einen Gott gibt, hatte ich gefragt, warum lässt er diese ganze Barbarei zu?

Eine Frage die mich angesichts der Weltlage zunehmend umtreibt.